Referenten - Bezirksschiedsgericht Neckar/Fils

Veröffentlicht am: 30.11.1999 von Importfilter in: Schiedsgericht » Urteile Drucken

2 BSG J5/2000
Schiedsspruch
(Versäumnisurteil)
In dem Protestverfahren
Michael Tscharotschkin
Neckartenzlinger Str. 26 in 72658 Bempflingen
- Protestführer -

gegen
Tim Hagemann
Mörikestr. 21 in 72076 Tübingen
- Protestgegner -

wegen
Remisantrag


hat das Bezirksschiedsgericht Neckar/Fils in mündlicher Hauptverhandlung am 30. November 2000 in der Besetzung Rolf Jablonski als Vorsitzender, Bernd Stephan und Axel Eisengräber-Pabst als Beisitzer für Recht erkannt:
1. Die bisherige Wertung der Partie M. Tscharotschkin - T. Hagemann wird aufgehoben
2. Das Ergebnis ist mit 1:0 für M. Tscharotschkin festzuhalten
3. Das Mannschaftsergebnis ist entsprechend zu berichtigen
4. Die Kosten hinsichtlich der Verfahrensgebühr trägt der Bezirk Neckar/Fils
5. Die Kosten hinsichtlich der zusätzlichen Schreibgebühr trägt der Protestführer


Gründe

I.
Der Protest ist zulässig. Er ist auch fristgerecht eingelegt. Der vorhandene Formmangel wurde durch Begleichung der erforderlichen Schreibgebühren geheilt (§§ 17 Abs. 4 und 12 SchO, § 136 KostO). Wegen der Säumnis des Protestgegners hat er auch in der Sache Erfolg. Auf die ordnungsgemäße Ladung zur mündlichen Hauptverhandlung teilt der Protestgegner mit Schriftsatz vom 21.11.2000 mit: „...Leider bin ich am 30. d. M. verhindert, aber da ich ja meine Stellungnahme schriftlich abgegeben habe, bin ich mit einem Versäumnisurteil einverstanden. ...“ Nach Aufruf der Sache stellte das Gericht fest, dass die Parteien ordnungsgemäß geladen waren. Erschienen ist jedoch lediglich der Protestführer. Das Gericht erörtert mit den Anwesenden den Sachverhalt, sodann stellt der Protestführer nach Belehrung durch das Gericht den Antrag, die Partie wie Bl. 45 d. A. und gegebenenfalls Versäumnisurteil zu erlassen. Wegen Säumnis stellt der Protestgegner keine Anträge.
Somit obsiegt die anwesende Partei aus formellen Gründen.

II.
Das BSG kam nach ausreichend gewechselten Schriftsätzen zu der Überzeugung, dass im konkret vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung zum Zwecke der Beweiserhebung erforderlich sei, um noch bestehende Widersprüchlichkeiten zu beseitigen. Ebenso kam das BSG zu der Überzeugung, dass von den Beteiligten -und vielleicht darüber hinaus- generelles Interesse an Ausführungen zu dem, zugegebener Maßen nicht einfachen, Art. 10 FIDE-Regeln (FR) herrscht.
Der Art. 10 FR ist eine Schutzvorschrift für den Spieler, der ausreichend schnell gespielt hat, aber vor der letzten Zeitkontrolle in Zeitnot gekommen ist. Dieser Art. 10 FR will ihn nun davor schützen, lediglich durch den Umstand die Partie zu verlieren, weil die Spielregeln, aus nachvollziehbaren Gründen, von der „unendlichen“ zur „endlichen“ Partie gewechselt haben. Die frühere Regelung von z. B. 40 Zügen in zwei Stunden, danach jeweils eine Stunde für weitere 20 Züge, führte zu Hängepartien und damit zu unvollständigen Gesamtergebnissen und Tabellen. Die aktuelle Regelung setzt jedoch ein absolutes Ende am Brett fest. Eine Gesamtbetrachtung der Regeln macht deutlich, dass bei einer Turnierschachpartie der Faktor (Uhren-) Zeit eine untergeordnete, bei einer Schnellschachpartie eine größere und bei einer Blitzpartie eine gravierende Rolle spielt. Diese Abstufung sollte auch nach der Regeländerung zur „endlichen“ Partie erhalten bleiben, weshalb in der Phase zur letzten (absoluten) Zeitkontrolle die sogenannten Beendigungsregeln (jetzt Art. 10 und Anhang D der FR) Anwendung finden; je nachdem, ob ein Schiedsrichter vor Ort ist oder nicht.
Damit eine Schutzvorschrift auch Schutz gewährt, muss der um Schutz nachsuchende (antragstellende) Spieler schutzwürdig sein. Dazu ist zu prüfen, ob der antragstellende Spieler ausreichend schnell gespielt hat. Diese Bedingung erfüllt er nicht, wenn er, die früher geltende Regelung zugrunde gelegt, die erforderliche Zügezahl, die zum Erreichen der nächsten Zeitkontrolle erforderlich gewesen wäre und ihm im Falle der oben erwähnten Bedenkzeitregelung eine weitere Stunde Bedenkzeit eingebracht hätte, nicht erreicht hat. In diesem Fall hätte er wie bei jeder beliebigen, aber nicht letzten (absoluten) Zeitkontrolle wegen Zeitüberschreitung verloren. Eine Schutzwürdigkeit des Antragstellers besteht nicht allein aus dem Grund der hochgradigen Zeitnot des Antragstellers. Der Faktor Zeitnot ist lediglich ein Indiz dafür, dass der antragstellende Spieler entweder mit seiner Bedenkzeit schlechter hausgehalten hat als sein Gegner oder durch das starke Spiel seines Gegners zu längerem Nachdenken gezwungen wurde. Der Bedenkzeitvorteil, den der Gegner nun hat, ist ein Vorteil, den dieser sich wie jeden anderen Vorteil an Raum, Material oder Zeit anrechnen lassen darf, aber eben in der oben erwähnten Stufigkeit. Hier kommt die Schutzwürdigkeit des Antragstellers zum Zuge. Der Bedenkzeitvorteil darf nicht dazu verwendet werden, die Partie auf die Art zu gewinnen, dass der antragstellende Spieler mittels schneller, keinen Plan verfolgender Züge über die Zeit gehoben wird oder dass eine klare Remisstellung weitergespielt wird mit der zwangsläufigen Folge, dass bei dem Spieler mit der schlechteren Restbedenkzeit das Fallblättchen zuerst fällt.
Wird nun ein derartiger Schutzantrag gestellt, neutralisiert der Schiedsrichter die Uhr, sofern dies noch nicht geschehen ist und prüft dann zunächst, ob der Remisantrag zulässig ist, Art. 10 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 FR.
Sodann wird der Schiedsrichter bemüht sein, den Antrag richtig zu entscheiden und Beweis durch Augenschein (Betrachten und u. U. Beobachten der fraglichen Partie) erheben. Er kann den Antrag sofort zurückweisen, wenn z. B. der Antragsteller nicht schutzwürdig ist, d. h. er hat wie oben beschrieben die erforderliche Zügezahl nicht erreicht, der Antrag aus formellen Gründen nicht zulässig ist oder der Antragsteller einen großen Materialnachteil hat. Er kann dem Antrag sofort stattgeben, wenn er ohne Zweifel der Überzeugung ist, dass der Antrag zulässig gestellt und, weil ausreichend bewiesen, auch begründet ist. Er kann seine Entscheidung hinausschieben, wenn er noch Zweifel hat. Das wird vor allem in den Fällen sein, in denen die Stellung unklar ist oder eine der Parteien einen leichten Vorteil hat, wobei aber beide Seiten noch Fehler machen können, da die Stellung viele Möglichkeiten birgt. Die FIDE-Regeln kennen den Ausdruck „theoretisches Remis“ nicht. Wenn eine Stellung zwar theoretisch remis ist, so müssen die Spieler auch den Weg dorthin kennen. Allein die Begründung, die Stellung sei theoretische remis, genügt nicht, da es meist zum Remis noch ein langer Weg ist. Stellt der Schiedsrichter seine Entscheidung zurück, gibt ihm der Art. 10 Abs. 2c FR die Möglichkeit, die Entscheidung auch erst nach dem Fallen des Fallblättchens zu treffen.
Die Entscheidung des Schiedsrichters ist in jedem dieser drei Fälle qualifizierter als seine Entscheidungen zu anderen Tatbeständen. Dies wird durch den Umstand deutlich, dass Rechtsmittel gegen diese Entscheidung nach Art. 10 FR sofort angekündigt werden müssen (§ 17 Abs. 1c SchO). Sie ist somit einen Schritt näher an der sogenannten „Tatsachenentscheidung“ z. B. eines Fußballschiedsrichters. Dies wird deutlich, wenn der betroffene Spieler Rechtsmittel gegen eine offenkundig falsche Schiedsrichterentscheidung einlegt, jedoch vergessen hatte, sofort Rechtsmittel anzukündigen, denn dann würde sein Rechtsmittel zwangsläufig als unzulässig zurückzuweisen sein, weil eine formelle Voraussetzung fehlt. Diese nicht ganz so leicht angreifbare Entscheidung des Brettschiedsrichters trägt dem Umstand Rechnung, dass die zu treffende Entscheidung nicht immer einfacher Natur ist, und nimmt hierfür eine gewisse Fehlerhaftigkeit bewußt in Kauf. Es kann von keinem Schiedsrichter erwartet werden, dass er ohne die geringste Fehlerhaftigkeit eine klare Remisstellung erkennt. Hinzu kommt, dass eine klare Remisstellung im Sinne dieser Vorschrift die Fähigkeiten der agierenden Spieler zu berücksichtigen hat. Ebenso ist es möglich, dass ein Schiedsrichter auf schnelles, planloses Spiel zum „Zeigersieg“ erkennt, also auf Remis entscheidet, obwohl diesem Spiel sehr wohl ein konkreter Gewinnplan zugrunde liegt. In all diesen Fällen schließt die Verfahrensordnung nicht aus, dass es zu einem Schiedsverfahren vor Ort mit Beweis und Gegenbeweis kommen darf.
Der Schiedsrichter als quasi Einzel- und Schnellrichter vor Ort tut gut daran, den Gesamtablauf zu protokollieren. So würde beispielsweise seine Remisentscheidung der schiedsgerichtlichen Überprüfung standhalten, wenn das nachfolgend skizzierte Schiedsrichterprotokoll in die Verhandlung eingeführt würde:
„Ich wurde zu der Partie A gegen B gerufen. A stellte den Antrag auf Remis, weil B eine klare Remisstellung auf Zeit gewinnen wolle. Ich lehnte den Remisantrag nicht sofort ab, weil mir die Partie schon vorher aufgefallen war, als ich ein Remisangebot von A wahrnahm und ich mich am Brett überzeugen wollte, ob B, der in der gleichen Mannschaft wie ich spielt, dieses Remisangebot annehmen würde. Zum Zeitpunkt dieses Remisangebots hatte A noch den König und etwa 10 Minuten Bedenkzeit; B hatte noch König, Läufer und Springer und knapp eine halbe Stunde. Zu meiner Beruhigung als Mannschaftsführer nahm B das Remisangebot nicht an und so widmete ich mich wieder meiner eigenen Partie. Zum Zeitpunkt des Remisantrags hatten beide Spieler noch das gleiche Material auf dem Brett. Die Stellung hatte sich kaum verändert, obwohl seitdem 10 bis 20 Züge gespielt worden waren. Verändert hatte sich die Bedenkzeit. A hatte weniger als zwei Minuten, B noch 6 Minuten. Ich entschied auf Weiterspielen. Die Spieler folgten meiner Anweisung, wobei sich das Spieltempo stetig verschärfte. Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, dass B seinem Ziel näherkam, so dass ich auf Remis entschied, als bei A das Blättchen fiel. B war mit meiner Entscheidung nicht einverstanden und trug vor, dass ein derartiges Endspiel zwangsläufig gewonnen sei. A widersprach. Er war der Meinung, dass Springer und Läufer generell nicht gewinnen können. Ich ließ die Partie fortsetzen. Als dann auch das Blättchen von B fiel und dieser das Matt nicht erzwungen hatte sondern es bis dahin lediglich bewerkstelligte, den König an den Rand zu drängen (von wo er vorher allerdings schon zweimal wieder entwischt war) entschied ich nochmals auf Remis und begründete dies damit, dass die Stellung zwar objektiv gewonnen sei, der Spieler B es aber nicht geschafft hatte, diese Partie mit normalen Mitteln zu gewinnen.“
Dies ist unter „normale Mittel“ ebenso einzuordnen, wie das Endspiel Dame und König gegen König, in welchem der überlegene Spieler aus Versehen Patt statt Matt setzt. Der Ausdruck „normale Mittel“ schließt alle menschlichen Stärken und Schwächen, aber auch die höhere Fehleranfälligkeit unter Zeitdruck ein.

III.
Gegen diese Entscheidung ist das Rechtsmittel der Berufung zum Verbandsschiedsgericht zulässig. Die Berufung ist schriftlich in dreifacher Fertigung beim Vorsitzenden des Verbandsschiedsgerichts anzubringen, § 13 SchO.


Jablonski
Stephan
Eisengräber-Pabst
Februar 2001